Alplerische Winterfreuden im Sommer
Von Prof. H. Cranz in Stuttgart
Wenn bei uns halber Sonnenschein mit Nebel kämpft oder – und meist an Sonn- und Feiertagen – grämlicher Regen mit sporadischen Schneeschauern die Wege grundlos macht, da bringt den Wiener, Münchener oder Freiburger eine kurze Bahnfahrt auf lichte Höhen, wo glänzendes Sonnenlicht von den Myriaden der Eiskristalle wiedergestrahlt wird. Dort fährt sausend die Rodel vom traulichen Unterkunftshause zu Tal, da gleitet lautlos der Ski über den weißen Hang an der tief verschneiten Almhütte vorbei zur aussichtsreichen Höhe, auf der spiegelblanken Fläche des Gebirgssees tummelt sich Groß und Klein mit Schlittschuh und Stechschlitten und der Städter findet sich mit den sportfrohen Bauern Oberbayerns, Tirols und Steiermarks beim Eisschießen zusammen, wenn wir mit Mantel und Parapluie uns gegen den ewigen Sprühregen wehren.
Wohl kommen wir in der sommerlichen Urlaubszeit mit dem Alpler zusammen, wir besuchen ihn auf der Alm, wir freuen uns seiner Jodler auf der Kegelbahn oder bewundern ihn, wenn ein seltener Zufall es will, bei urwüchsigem Schuhplattler in entlegener Waldschenke; aber der Sommer ist die Zeit der harten Bauernarbeit, wir haben das Gefühl, und Eingeweihte bestätigen es, wer das Gebirgsvolk recht kennen lernen will, muß es im Winter besuchen, wenn es unter sich ist, die Arbeit weniger drängt und die lustige Karnevalszeit zu allerlei Fest und Kurzweil treibt.
Von einer dieser Vergnügungen, dem Eisschießen, das nicht nur im Gebirge, sondern auch auf der ganzen bayrischen Hochebene geübt wird, hatte ich schon viel gehört und gelesen, aber es war mir nie geglückt, es mit anzusehen. Um so lieber benützte ich die Gelegenheit, die sich mir bot, ein solches im Sommer 1902 mit anzuschauen, und da die Mehrzahl der Alpenvereinsmitglieder in der gleichen Lage sein wird, wie ich es war, so möge mir eine kurze Schilderung des Verlaufes vergönnt sein.
St. Ulrich am Pillersee ist wenig bekannt, gegen den stattlichen Nachbarmarkt Lofer verhält sich’s an Größe und Bedeutung wie Donauwörth gegen München. Aber die Bewohner, durch ihren kargen Boden viel auf harte Holzarbeit angewiesen, sind kräftige Leute; als echte Tiroler halten sie etwas auf Schneit, ihre Rangler haben einen Ruf bis ins Pinzgau hinein; bei den Gemsjagden dienen die Jungen als Treiber, daher gibt’s dort verschiedene ausgezeichnete Kletterer (Sänger und Jodler gibt’s unter ihnen schon, weil’s Pillerseer sind). Im Winter aber nützen sie den See und den ebenen Talboden fleißig zum Eisschießen, wozu der Wagnerhans weitberühmte „Stöckeln“ fabriziert. Mit den unterpinzgauischen Loferern, unter dem Steinberg, verbindet sie nicht nur der Bach, der aus dem Pillersee kommt und bei Lofer in die Saalach fällt, sondern auch manch alte und nicht immer friedliche Beziehung; in letzter Zeit dazu noch die gemeinsame Führeraufsicht unserer Sektion Passau und das gemeinsame Interesse an deren schöner „Schmidt-Zabierow-Hütte“ in der Wehrgrube. Wurde diese von Lofer aus gebaut, so wurde sie dagegen von den Ulrichern mit ihrer bergfesten Musik zuerst eingeweiht; geht von Lofer aus der schöne neue Weg hinauf, so ist’s wiederum der Ulricher Simon Widmoser, der sie bewirtschaftet, und seine Schwägerin, die Frau meines trefflichen Führers Klemens, die dort oben als Perle der Hüttenköchinnen schaltet.
In Lofer aber hat der sportbegeisterte kk Forstverwalter Wittig seit einigen Wintern die Jungmannschaft aufgerüttelt und im Eisschießen geübt. Aus seinen Akten hat er aufgestöbert, daß im Sommer 1900 auf dem Schnee in der Großen Wehrgrube ein solches Eisschießen veranstaltet worden ist. Als nun im vorigen Frühsommer statt der ersten Touristen und Sommerfrischler wieder der Winter mit metertiefem Schnee ins Gebirge zog, als unter dem stets missgelaunten Himmel die Gruben im Steinberg zu regelrechten Keesen sich auszubilden drohten und im August noch die Quelle bei der Hütte unter Eis und Schnee eingefroren lag, da ging er hinauf zum halb vergletscherten Hüttchen in der Wehrgrube und besprach’s mit dem Hüttenwirt, daß er gegen Ende August seine Ulricher Eisschützen zum winterlichen Turnier entbiete und ein Fass Bier dazu herrichte.
Wie ich auf dem Piz Madlein in den fernen Unterengadiner Bergen fröhliche Gipfelrast hielt und nach den Schneefeldern des Lischanna und Sesvenna schaute, sagte mir Klemens: am Samstag vor Schutzengelsonntag wollen sie in der Wehrgrube ein Eisschießen halten, die Ulricher und Loferer; und wie wir dann nach St. Ulrich zurückgekehrt waren und mein Freund R. seine Frau in unsere einfache, trauliche Sommerheimat gebracht hatte, um sie zum ersten male einen Blick ins wilde Gebirge tun zu lassen da sagte ich denen davon und wir beschlossen mit einer hübschen Tour auf den Steinberg den Besuch des seltenen Festes zu verbinden.
Wir bestellten den treuen Klemens als Begleiter, der mittlerweile seine gewohnte Beschäftigung mit den Waldriesen des Grieseltales wieder aufgenommen hatte und den es längst nach einem Wiedersehen mit Frau und Bruder gelüstete, und stiegen am Morgen des 29. August, am unteren Ende des Pillersees das Tal überschreitend, auf gutem Waldwege um den nordwestlichen Ausläufer des Ulrichshorns herum in den mittleren Teil des Steinberggrabens, jenseits dann weglos zwischen Gebüsch steil zum Brunnkopf hinan. Von dort verfolgten wir rechts am immer noch unerstiegenen Baumanndl, am Glöcker- und Elferhörndl vorbei das an schönen Tiefblicken reiche Glöckerwegl, ein altes, oft kaum mehr kenntliches Geisensteiglein, das in der Scharte zwischen Rothörndl und Schafeckl auf den Nordkamm des Steinbergs führt.
In der Südflanke des Rothörndls gings über begraste Bänder so weit hinauf, bis wir den einzigen breiten Kreis gefunden hatten, der in der Südwand der Rothörner hoch über dem oberen Lastalkar fast horizontal gegen die Ulricher Nieder im großen Bogen zieht; von da erreichten wir über die wohlbekannten Treppenabsätze den Gipfel des Mitterhorns erst abends 6 Uhr, denn unserer Begleiterin hatte der lange und ungewohnte Aufstieg hart zugesetzt; wir waren daher – in der Sicherheit, immer noch rechtzeitig zur Hütte zu kommen, – gar oft und viel zu Kas und Umschau nieder gesessen. Auch oben gönnten wir uns reichlich Zeit zum Genuss der Aussicht. Ich verzichte auf ihre Beschreibung, sie gehört zu den allerschönsten Osttirols und gewinnt gegenüber anderen hohen Aussichtswarten durch den Kontrast zwischen der blinkenden Ferne und den lachenden Tälern ringsum mit der tiefernsten Felseneinsamkeit der nächsten Nähe.
Langsam stiegen wir über die langen Kehren an der Südwand des Breithorns im Dämmerlicht des nächtlichen Dunkels zur Hütte und lieferten unseren langen Klemens in die Arme seiner rundlichen Gattin, die ihm schon, als wir auf der Waidringer Nieder standen, sehnsüchtig entgegengejodelt hatte; auch ich wurde als alter Ulricher Stammgast herzlich willkommen geheißen. Aber bald stand die flinke Wirtin wieder hinter dem kleinen Hüttenherd und bereitete zur Auffrischung der gesunkenen Lebensgeister unserer Begleiterin ihre Spezialität, eine echte „Steinbergeinbrennsuppe á la Anna“.
Außer ein paar jungen Touristen, die mit Führer Sock aufs Ochsenhorn wollten, waren zwei Loferer Bürger da, die zur morgigen Übung ihre Eisstöckeln mitgebracht hatten. Es sind dies plattgedrehte Scheiben aus Hartholz, 35 cm im Durchmesser, innen 4 cm, am Rande 2 cm dick und mit schwerem Eisenreif beschlagen. In der Mitte ist ein dünner gedrehter Stiel von 25 cm Länge befestigt, das Ganze gleicht ungefähr einem Pflastererstuhl und wiegt etwa 8 Pfund. Die bayrischen Eisstöcke sollen kleineren Durchmesser haben, aber dicker sein. Die Männer behaupteten, einen besonderen Gewinnsegen in ihren Scheiben verborgen zu haben, sie haben aber nachher das Geheimnis nicht verraten.
Als ich mit meinem Freunde (seiner Gattin hatte er einen Rasttag verwilligt) morgens vor die Hütte trat, fegte ein kalter Wind nasse Nebelschwaden über die Felsschrunden der Wehrgrube dahin und nur ab und zu hob sich gespenstisch eine der steilen Felswände heraus, die den düsteren Kessel umstehen. Wir wollten in Begleitung Widmosers auf das Große Reifhorn gehen. Die riesigen Felsbänke, die den Fuß des Kreuzreifhorns umkleiden, erschienen so nahe, daß Freund R. glaubte, wir seien in 10 Minuten beim Einstieg, aber er musste sich dann überzeugen, was es heißt, sogar auf markiertem Wege durch das Labyrinth von Blöcken, Spalten, Trichtern, glatten Platten und scharfen Felsschneiden sich hindurchzuarbeiten, wie es eine Steinberggrube bietet. Über die hohen Mauerstufen am Nordfuße des Kreuzreifhorns stiegen wir zu dem breiten Bande auf, das in dessen Ostwand sanft ansteigend bis unter das Weinschartl südlich vom Gipfel führt, dann ging’s durch ein geröllführendes Klamml zur Scharte hinauf und von ihr brachte uns eine hübsche Kletterei über den Grat südwärts zum Gipfel des Großen Reifhorns, den ich nun schon zum dritten male betrat, der aber trotz dem entzückenden Tiefblick in das wilde Grabengebiet der Südseite und trotz der herrlichen Aussicht auf die Tauern und auf das Massiv des Leoganger Steinbergs recht selten betreten wird.
Beim Aufstieg hatten uns die Zurufe der Ochsenhornbesteiger begleitet, in der Scharte hatten wir auch gehört, wie die Loferer Mannschaft, über die Tretter heraufkommend, mit denen bei der Hütte sich von ferne begrüßte; nun mussten auch die Ulricher bald anrücken, oder sollten sie dem Wetter – es hatte in der Nacht geregnet und vormittags Strichregen und Nebeltreiben mit vereinzelten Sonnenblicken abgewechselt – nicht getraut haben?
Doch als wir fröstelnd neben dem Steinmann beim Imbiss saßen, zerriss plötzlich der Nebelschleier über der Steinwüste und Klemens entdeckte zwei Gestalten, die vom Wehrgrubenjoch gegen den „Nackten Hund“ zu anstiegen. Sie waren zu weit links geraten und hatten die richtige Abstiegstelle zur Wehrgrube verfehlt. Mit gellendem Schrei wies sie Klemens zurecht, dann erschienen noch weitere Ulricher auf dem Joch und wir beeilten uns auf dem gleichen Wege wieder zur Hütte zu kommen. Dort trafen wir mit zwei Nachzüglern zusammen; sie hatten nur kurze Hakenstöcke ohne Spitzen und trugen ihre Eisstöcke in der Hand, gerade keine passende Ausrüstung, um die steile Eishalde, die zwischen dem Wehrgrubenjoch und der hinteren Grube in diesem Sommer sich gebildet hatte, zu überwinden. Die Loferer, die in Begleitung einer größeren Sommerfrischler-Gesellschaft erschienen waren, machten einen stattlichen Eindruck, voran die untersetzte Gestalt ihres Hauptmannes, des Forstverwalters und seiner drei stämmigen Untergebenen; von den Ulrichern waren mir die meisten schon bekannt: der Schwandter Müller mit dem breiten, schlau lächelnden Gesicht als guter Rangler, der schweigsame Lenzenhans, der Stöckl-Anton und andere. Mit den beiden Widmoser waren es auf jeder Seite gerade zehn Mann und nun sollte es auch gleich losgehen.
Simon Widmoser holt zwei Kugeln, die er mit dem Beil aus Tannenholz zurecht gehauen, und legt sie ins Feuer, um sie zu schwärzen; das seien die beiden „Hasl“, die Ziele, und dann begibt sich die Gesellschaft einige hundert Schritte westlich von der Hütte, wo zwischen hohen Felsblöcken versteckt in einer in einer Senke ein großes, ziemlich ebenes Schneefeld bis an die Südostwand des Mitterhorns sich erstreckt, um das sich die schaulustigen Loferer Sommerfrischler-Gesellschaft schon in malerischer Aufnahmepositur gruppiert hat, als ich mit dem Apparat anlangte.
Ein paar Jungens von den Tirolern können’s nicht erwarten, bis es losgeht, wild wird die schwere Scheibe im Kreise ein paar Mal geschwungen, dann fliegt sie in flachem Bogen durch die Luft, klatscht auf die Schneefläche auf und schwirrt darüber hin bis ans Ende des Schneefeldes und springt polternd und dröhnend an den Felsen des Mitterhorns in die Höhe. Ein bedächtiger Pinzgauer, dem das Wettspiel ums Fassl Bier eine ernste Sache, keine Hetz ist, schimpft weidlich auf den Hüttenwirt, daß er nicht mit Schaufel und Besen die Unebenheiten des Schnees vertilgt und eine „gerechte“ Bahn hergerichtet habe.
Dann stehen die beiden „Moar“, der Forstverwalter auf der Loferer und der Schwandter Müller auf der Ulricher Seite mit den Hauptspielern zu einer kurzen Konferenz zusammen; sie besprechen, wie es scheint, die Bedingungen. Dann stellt sich der Loferer Häuptling an das eine Hasl, zielt bedächtig, schwingt die Scheibe, indem er sie fortwährend an dem Handgriff dreht, wuchtig herum. Sie fliegt nicht weit in der Luft, aber kerzengerade rutscht sie über alle die kleinen Schneewellen weg aufs jenseitige Hasl zu, stößt es an und bleibt hart daneben liegen. Der Ulricher Moar folgt. Man merkt auch hier die Kunst, die über der rohen Kraft steht; die erste Scheibe wird getroffen und etwas auf die Seite geschoben, aber noch ist sie näher beim Ziele. Andere Ulricher folgen, während ihr Meister draußen steht und ihnen zuruft und zeigt, wohin sie schießen sollen. Stöckl um Stöckl lagert sich neben die anderen, schiebt sie zusammen und bleibt weiter außen liegen; die Loferer sind immer noch näher.
Jetzt kommt eines, von ganz wildem Schützen geworfen, in hohem Bogen, erst kurz vor dem Haufen der anderen herunter, schlägt ihn auseinander, springt auf eines auf, schlägt ihm den Stiel ab und hüpft weiter; das Hasl wird getroffen und rollt weiter vorwärts, hart neben die Scheibe eines Ulrichers. Nun ist der Loferer Förster, eine wahre Enaksfigur, an der Reihe. Dieser Wucht widersteht nichts, die Stöckle stieben auseinander, die Ulricher Scheibe wird vom Ziel weggetrieben und des starken Loferers Stock ist der nächste. Wieder kommen die Tiroler dran. Der Riegerwirt von Hochfilzen ist ein gewandter Schütze, aber die Scheibe mit dem abgebrochenen Stiel hat sich mit den Rändern fest im Schnee verrammelt, sie kann nicht weggebracht werden und liegt gerade in der Schusslinie: der Hüttenwirt, dem es ein kleines ist, ein Fass Bier von Lofer zur Hütte herauf zu tragen, schwingt das Wurfgeschoß, daß die Adern schwellen; aber er hat zu früh losgelassen und nur ein Loch in den Schnee gegraben.
Von den Ulrichern ist nur noch ein Mann übrig; aber wo steckt er denn? Da kommt mit langen gemessenen Schritten Klemens Widmoser den Abhang herab. In seiner gewohnten stillen Art hatte er sich gleich nach unserer Rückkunft vom Reifhorn auf dis Seite gemacht, dann hatte er wohl im ruhiger gewordenen Hause mit der Gattin noch einen Plausch gehalten; aber jetzt steht er fest beim Wurfmal, die anderen Ulricher in aufgeregter Erwartung neben dem Ziele. Haarscharf markiert der Moar die Richtung und haarscharf saust, mit einer an dem bedächtigen Manne überraschenden Gewandtheit geschleudert, der Stock in der gewiesenen Bahn, schlägt die eingegrabene Scheibe, fliegt auf sie hinauf und schiebt die nächste zur Seite; aber nun ist auch seine Energie dahin, dem Gesetz der Schwere gehorchend, rutscht er der Neigung des Schnees nach vom Ziele ab. Die Ulricher haben das erste Spiel verloren.
Sofort beginnt das zweite, gegen das Hasl zu, von dem aus vorhin geschossen wurde, und der Ulricher Moar beginnt. Wieder zeichnen sich unter den Loferern der stämmige Förster, unter den Ulrichern unser „Meng“ Widmoser aus, und dieses mal, wo der verhängnisvolle Krüppelstock durch einen anderen ersetzt ist, siegte Ulrich; aber sofort ging’s weiter und ebenso zäh wie sicher behaupteten die Pinzgauer in den zwei folgenden Spielen die Oberhand.
Damit war der Kampf aus, Lofer hatte gewonnen.
Einzelne der Burschen traten noch zu einem Weitschießen zusammen und machten dabei verschiedene Privatwetten aus; ich suchte mit meinem Freunde und dessen Frau ein stilles Platzl in der Gaststube. Dann erschienen die Kämpfer, aufgeregt und erhitzt, aber nicht ermüdet, weder vom vorhergehenden Marsch noch vom Spiel; Pinzgauer und Tiroler drängten sich in bunter Reihe um den langen Tisch zusammen und harrten des feierlichen Moments wo das Preisbier angezapft wurde.
Während unsere alpine Novize, deren Ideen vom Gebirgsleben aus den „Fliegenden Blättern“ und Romanen geschöpft waren, sich scheu in die Ecke drückte in banger Furcht, nun bald die obligate Rauferei sich entwickeln zu sehen, erhob sich der Moar der siegreichen Loferer und brachte in beredten Worten mit einer Lobrede auf den edlen Sport und den regen Wetteifer der Nachbarorte ein Hoch auf die Ulricher aus, das deren Anführer sofort schlagfertig mit einer Einladung zu einem großen Eisschießen auf dem Pillersee erwiderte.
Die Stimmung war eine durchaus ungetrübte; als dann, vom prachtvollen Tenor des Forstverwalters getragen, die alten originalen Volkslieder erklangen, die man bei den herumziehenden Tiroler Sängern vergeblich sucht, als die Ulricher den Kaltenbrunner und andere Jodler erschallen ließen, die ich von den sangesfrohen Lederstubenbuben so manchmal schon gehört hatte, da bestätigten mir meine schwäbischen Gefährten, daß ein so ungezwungen lustiges und dabei gesittetes Treiben, eine so hübsche Vereinigung von mannhafter Schneid und harmloser Fröhlichkeit bei unseren Landleuten in der Ebene draußen nicht zu finden wäre. Das Fassl war leer und wurde umgelegt, auf jeden Gewinner kamen ca. 1-2 Kr., auf jeden Mann der verlierenden Partei das Doppelte.
Dann rüstete man sich zur Heimkehr. Die Ulricher hatten nach ihrem fünfstündigen Aufstieg noch nicht genug am Bergsteigen, sie wollten durch die Kleine Wehrgrube aufs Rotschartel und durch die heuer mit Eis erfüllte Schlucht hinab zum Niederkaser, um dann noch in der Nacht durch den Schmittgraben nach St. Ulrich hinauszuziehen, und morgen in der Schutzengelprozession mitzuwirken; Klemens wollte ihnen in der Eisschlucht einige Stufen hacken.
Wir gingen nach herzlichem Abschied von den Wirtsleuten mit den Loferern fort, blieben aber bald zurück und wurden auch noch von den zwei jungen Jägern überholt, die den Ulrichern das Geleit durch die Kleine Wehrgrube gegeben hatten und dann in riesigen Sätzen über die Blöcke und Platten der Tretter hinab sprangen. Im Loferer Tale ließ ich meine Reisegenossen links gehen, um im Gasthaus Hinterhorn auf mich und den Wagen zu warten, den ich in Lofer für die Heimreise holen wollte. Als ich deshalb beim Metzgerwirt zusprach, saß die Loferer Eisschützengesellschaft dort noch zu kurzem Nachtrunk versammelt.
Als Inhaber einer renommierten Sommerfrische wissen sie die Macht der Presse zu schätzen und ersuchten mich daher, das Erlebnis des Tages in einer Zeitung zu schildern. Ich versprach’s, aber als ich dran gehen wollte, merkte ich, daß ich von den Regeln des Spieles doch eigentlich recht wenig verstanden hatte.
So schrieb ich denn an die treffliche Hüttenwirtin und Bergführersfrau Anna Widmoser um Aufklärung und erhielt alsbald von ihr eine eingehende briefliche Darstellung, die ich den Lesern der „Mitteilungen“ wörtlich und ohne Auslassungen vorführe, da ich selbst so einfach und klar es nicht gekonnt hätte.
St. Ulrich, den 15. Feber 1903
Hochverehrter Herr Professor!
In Betreff des Eisschießens werde ich mich möglichst bemühen, Ihnen genau mitzuteilen, welchen Verlauf dieses Spiel in der Regel nimmt; um mich besser verständlich zu machen, will ich den Verlauf des Eisschießens in der Großen Wehrgrube schildern.
Zehn Loferer standen zehn Mann von St. Ulrich und Hochfilzen gegenüber, es ist dies zum Moarn eine sehr kleine Zahl; jetzt im Winter, wo die großen Eisschießen gehalten werden, stehen sich oft 40 bis 50 Mann von einer Partie gegenüber. Ja es gibt auch Gegenden im Salzburgischen namentlich im Pinzgau, wo auch Frauen und fesche Dirndln solche Feste veranstalten und entweder an einem festgesetzten Tage sich in der Gemeinde selbst bekämpfen (meistens ist es Mode, daß die eine Partie die Frauen und die andere die Dirndln bilden), oder sie fahren mittels Schlitten auf Einladung einer Nachbargemeinde dorthin, um sich an Ort und Stelle mit ihresgleichen zu messen; da gibt’s dann großartige Hetzen; das gleiche gilt auch von allen Männereisschießen, das in den Nordtiroler und oberbayrischen Gegenden nur vom starken Geschlecht betrieben wird.
Eine solch landesübliche Eisbahn ist ungefähr 20 m lang, 3 – 4 m breit, tadellos eben und von schönem Glatteis, was durch sauberes Auskehren und Aufgießen von Wasser erzielt wird. Die Eisbahn in der Wehrgrube war von der Natur ja ein wenig holperig veranlagt, aber das hat dem Vergnügen nicht geschadet. Also die beiden Hasl werden an den Enden der Bahn aufgelegt; die Stöcke kennen Sie so vom Sehen, und nun hat jede Partie einen Moar gewählt. Es ist dies ein Schütze, der eine anerkannte Treffsicherheit besitzt und der auch nachträglich das ganze Spiel seiner Partei leitet; er befiehlt jedem Schützen von seiner Seite, wo er hinschießen soll, behält sich gewöhnlich die Treffsichersten auf das Ende der Kehr auf und ist in allem wie ein Feldherr bemüht, für seine wackere Mannschaft den bestmöglichsten Vorteil zu erringen.
Diese beiden Moar eröffnen das Spiel; welcher von diesen beiden zuerst schießen darf, entscheidet das Los. Wer in der Wehrgrube zuerst geschossen hat, weiß ich nicht, doch ich nehme an, daß dies der Moar von den Loferern war; als zweiter kommt dann der Moar von den Ulrichern. Jetzt wird nachgesehen oder auch manchmal genau gemessen, welcher von den beiden Schuß hat, das heißt, welcher mit seinem Stock näher beim Hasl ist. Hat der Loferer Schuß, so läßt der Ulricher Moar so viel Schützen von seiner Mannschaft der Reihenfolge nach hinunterschiessen, bis der Loferer Moar verdrängt ist und die Ulricher Schuß haben; dann läßt der Loferer Moar von seiner Mannschaft schießen und muß zusehen, die Schwierigkeiten zu überwinden, um wieder in den in den Besitz des Hasl zu kommen. Ist es den Loferern gelungen, dann kommen wieder die Ulricher und es wird immer schwerer, Schuß zu bekommen, das heißt das Hasl zu erringen, wenn schon viele Stöcke hinunter geschossen wurden. Jeder Schütz, der geschossen hat, geht auf das andere Ende und so geht es fort, bis alle Mann geschossen haben, was man eine Kehr nennt. Sind dann alle Schützen drüben und haben die Ulricher Schuß, dann hat der Ulricher Moar den ersten Schuß, das heißt für die zweite Kehr, die wieder eben denselben Verlauf nimmt wie die erste. Welche Partei zuerst drei solche Kehren macht, hat das Spiel gewonnen. Hat eine Partei drei solche Kehren nacheinander gemacht, so heißt es, die Gegenpartei sei geschneidert worden; hat die verspielende Partei inzwischen eine Kehr behauptet, so ist das vernichtende Wort geschneidert nicht am Platze, sondern es heißt nur verspielt.
Was es dabei gilt, ist sehr verschieden, je nach Übereinkommen und Zahl der Beteiligten; für gewöhnlich halt ein paar Fassl Bier, einen Ziegenbock oder Widder, ja am Samstag den 21. Feber wird in Lofer ein Moarschießen gehalten, als Gegenbesuch der Ulricher und Hochfilzer für das Wehrgrubenschießen, wo es sieh um einen Stier von über 200 Kr. Wert handelt. Dann hat noch jeder Schütz einen Partner von der anderen Partei, mit dem er noch separat Zigarren oder irgendein Geldstück gelten läßt. Das Bier trinken dann beide Parteien zusammen und bei einem Stück Vieh zahlen alle Teilnehmer gleich viel und die gewinnende Partei fährt dann mit dem Stück ab.
Nach den geschilderten drei Kehren gibt es noch eine Kehr, die bei keinem Moarschießen fehlen darf, es ist dies die für den Alpenbewohner höchst wichtige Kehr, denn bei dieser handelt es sich nicht um Geld und Gut, sondern um viel Wichtigeres, um die Schneid. Diese Kehr läßt man sich recht ungern abgewinnen, besonders wenn das Schießen zwischen zwei Gemeinden abgehalten wird.
Ihre ergebenste Anita Widmoser.