1875 Winterleben im bayer. Oberland

Aus dem Winterleben im bairischen Oberland

Tief verschneit sind Berge und Wege, denn seit sieben Tagen fallen ohne Unterlaß die weißen Flocken; aller Verkehr ist abgeschnitten, der Schneepflug und – Geduld sind jetzt die einzigen Mittel, sich der Tyrannei des Winters zu erwehren. Um diese Zeit ist in der Regel die Holzarbeit die Hauptarbeit des oberbairischen Bauers; all die Tausende von schweren Stämmen, die das ganze Jahr hindurch der Axt zur Beute fallen und droben in den einsamen Wäldern liegen, werden jetzt herabgezogen wenn Schnee und Eis den rauhen Weg geglättet, kaum jemals den ganzen Sommer lang ist die Arbeit in den Bergen so rührig. Aber heute geht’s auch beim besten Willen nicht – es ist unmöglich weiter durchzudringen durch die ungeheuern weißen Massen nach stundenlängen mühevollen Versuchen kehren die Holzknechte zurück, bis an die Hüften mit Schnee bedeckt. So tritt die wilde Schar fast zwanzig Mann hoch in die warme Stube des Wirthes ein.– ↑ –

Es ist der Enterrottachwirth, ein altes einsames Gehöft, das auf dem Weg von Tegernsee zur Kaiserklause gelegen ist. Das schmale stundenlange Sträßlein führt hier vorüber und nur selten zieht einer des Wegs, ohne daß er da seine flüchtige Einkehr hält. Wildes Geschrei hallt jetzt durch die Stube, in der es fast zu eng wird für die vielen unverhofften Gäste; ganze Batterien steinerner Krüge werden aufgepflanzt, die Karten fallen auf den eichenen Tisch und manch drohendes Wort fällt im Spiel dazwischen. Es ist Blaumontag 1 heut, der Schnee hat’s so gewollt. Im Winkel der Stube aber, dicht neben dem großen Ofen sitzt ein schönes blondes Kind mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Hände im Schos; zwei dicke Zöpfe umrahmen die Stirn. Ihr Oberkleid ist eine graue Joppe, den grünen Hut, der daneben liegt, schmückt eine weiße Feder; es ist des Försters Töchterlein aus der Kaiserklause. Und was thut die hier, mitten im wilden Lärm und Qualm der Stube? Sie wartet bis der Weg nach Hause wieder gangbar wird, der jetzt so unergründlich verschneit ist; seit drei Tagen sitzt die arme Kleine hier gefangen und kann nicht weiter. Vier der stärksten Holzknechte, die der Vater ihr entgegengeschickt, mit Schaufeln und Schneereifen gerüstet, blieben auf halbem Wege stecken; wenn es so fortgeht, wird bald selbst an Lebensmitteln Mangel sein in dem einsamen Försterhaus.– ↑ –

Das sind die Leiden, die der Winter in den Bergen bringt, und man könnte wol wähnen, um solche Zeit sei das Leben da drinnen fast aller Freude bar. Aber bald ist ja wieder Bahn geschaffen, der Verkehr beginnt, und die Menschen sind erfinderisch in dem was ihnen Freude macht. Schon in den letzten Jahren wurden häufig große Schlittenrennen mit stattlichen Preisen abgehalten, bei denen allerlei Gäste aus nah und fern zusammentrafen, und bei denen man die strengen Normen des Sport ins bäuerliche Leben hineintrug. Noch lebendiger aber wird das Wintertreiben, wenn erst die großen oberländischen Seen gefrieren, und dadurch der Verkehr zwischen allen Ufern frei wird. Eins freilich, was sich nach unsern Begriffen von einem bunten Winterleben kaum trennen läßt, fehlt im bairischen Hochland fast gänzlich, das ist der Schlittschuhlauf; erst seit zehn oder fünfzehn Jahren ist derselbe überhaupt dort bekannt geworden, aber trotzdem wird das Schlittschuhlaufen fast nur von den sogenannten Honoratioren und den Bürgern betrieben, der Bauer hält sich davon noch heute mit angeborenem Widerwillen fern. Es entspricht dies auch völlig seinem ganzen Wesen, das mehr auf ruhiger massiver Kraft als aufgewandter Beweglichkeit beruht; er will festen breiten Boden unter den Füßen und mag kein Vergnügen leiden, wobei man schwankt und fällt.– ↑ –

Auf dieser festen breiten Unterlage, die der wuchtigen Körperkraft vollen Spielraum gönnt, haben sich darum die ländlichen Wintervergnügen entwickelt; das populärste von diesen Vergnügen ist das sogenannte Eisschießen geworden. Was soll der Bauer mit dem leichten luftigen Schlittschuh machen? Aber der schwere Eisstock, der 20 Pfd. und darüber wiegt, mit dem läßt sich schon eher etwas beginnen; den nimmt man doch in die Hände; und nicht an den Fuß, und wenn er klirrend über die Bahn hinsaust und die „Dauben“, die draußen am Ziele liegen, weit auf die Seite schleudert, dann schaut ihm der Bauer befriedigt nach und fühlt sich stark.– ↑ –

Doch auch der Geselligkeit ist dabei gedient, denn das Eisschießen ist ein demokratisches Vergnügen, und auf der harten Eisbahn gibt es keinen Unterschied zwischen hoch und nieder. Der Hansenbauer „schiebt an“ und dann kommt der Herr Landrichter und dann der Herr Baron vom Nachbargut. „Geht’s wega Buben – Donnerwetterelement!“ schreit der Bezirksamtsschreiber den losen Rangen zu, die eben über die Bahn gesprungen, als er zum Wurf ausholt. Mit flüchtigem Satz sind sie entwischt, der Herr Pfarrer aber, der aus der birkenen Dose bedächtig eine Prise nimmt schüttelt ergrimmt das Haupt und murmelt über die Verderbniß der Jugend. „Ja ja, ich sag’s ja alleweil, es ist nix mehr mit die jungen Buben von heutzutag, überall vertretens unser einem den Weg, dös kommt von dem verdammten Fortschritt her. Da schnupfen’s amal, Herr Kirchberger“ spricht er alsdann besänftigend zu seinem Nachbar. Unterdessen erhebt sich vernehmliches Knurren, denn des Herrn Pfarrers Bullenbeißer 2 faßt jählings den Darl 3 des Herrn Oberförsters beim Kragen. „Gehst rein!“ – „Obst hergehst!“ donnern die Gebieter, der dicke Wirth aber, der soeben abgeschossen, flucht und wettert daß der „verdammte Hundsspektakel“ ihm den ganzen Schub verrissen.– ↑ –

Bis zum späten Abend tummelt man sich auf der Eisbahn umher, dann geht’s natürlicherweise – ins Wirthshaus. Laut und lange wird dort noch gestritten, wer denn eigentlich angefangen, der Darl oder der Bullenbeißer, der Pfarrer oder der Oberförster, die Liberalen 4 oder die Ultramontanen 5, denn der Streit der beiden Köter war ja nur ein Symbol für die Stimmung ihrer Besitzer. Und der Fehlschub des dicken Wirths, auch das ist noch eine ungelöste Frage, nun das wird sich wohl morgen auf der Eisbahn zeigen. Aber siehe da, mit einem mal hört man wie es draußen klatscht und träufelt, die milde Luft vom Nachmittag ist umgeschlagen in vollen Regen. So – nicht einer der Herren hat ein Parapluie bei sich, und mit der Eisbahn ist es jetzt auf 14 Tage oder ganz für diesen Winter vorbei.

  1. Blaumontag: Seit dem 14. Jhdt. war es in Handwerksbetrieben üblich, die Montage während der Fastenzeit arbeitsfrei zu halten. Da man an diesen Tagen traditionell die Kirchen mit blauen oder violetten Tüchern schmückte, bürgerte sich für diese Tage der Begriff „blauer“ Montag ein. Die Arbeitsfreiheit des Fastenmontags wurde bald auch von Knechten und Arbeitern übernommen und auf die anderen Montage des Jahres ausgedehnt. Das „Blaumontagmachen“ war bis ins 19. Jhdt. heftig umstritten und immer wieder verboten (u.a. Verordnung der Kgl. Polizei-Direktion München vom 18.7.1825 bzw. 13.8.1833). Im Zuge der Umgestaltung der Arbeitsbedingungen in der industriellen Revolution wurde der „blaue“ bzw. „gute“ Montag im 19. Jhdt. endgültig abgeschafft. „Blaumachen“ steht heute für das unentschuldigte Fernbleiben von Arbeitsstelle oder Schule.
  2. Bullenbeißer gehörten wie die „Bärenbeißer“ zu den doggenartigen Hunden, die schon im Mittelalter bei der Jagd auf wehrhaftes Wild Verwendung fanden. Bullenbeißer wurden später auch bei Tierkämpfen eingesetzt und waren im 18./19. Jhdt. vor allem in England als Fleischerhunde bekannt. Heutige Hunderassen, die auf doggenartige Hunde in der Art des Bullenbeißers zurückgeführt werden, sind die Englische Bulldogge und der Deutsche Boxer.
  3. Der Darl ist ein kleiner, schwarzer Jagdhund mit meist braunen oder gelben Flecken über den Augen. Die Hunderasse wurde vorwiegend zur Baujagd (Fuchs, Dachs) gezüchtet. Aus dieser Hunderasse entwickelte sich nach Festlegung erster Rassemarkmale im Jahre 1879 der heutige Dackel (Dachshund, Teckel).
  4. Der Liberalismus ist eine Grundposition der politischen Philosophie, die eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung anstrebt. Leitziel des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums vornehmlich gegenüber staatlicher Gewalt. Der Liberalismus wurde insbesondere von der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei sowie der hiervon 1866 abgespaltenen Nationalliberalen Partei vertreten.
  5. Der Ultramontanismus war eine politische Haltung des Katholizismus in deutschsprachigen Landen einschließlich der Niederlande, die sich auf Weisungen von der päpstlichen Kurie, also aus dem von dort aus gesehen „jenseits der Berge“ (lateinisch ultra montes – gemeint sind die Alpen) liegenden Vatikan, stützte. Diese Haltung ging einher mit dem Antimodernismus, einer Strömung innerhalb der gesamten katholischen Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich gegen gesellschaftliche und politische Reformen zur Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie wandte. Ab 1870 wurde diese politische Richtung von der Deutschen Zentrumspartei vertreten.