1781 Der Zuschauer in Baiern

Der Zuschauer in Baiern

Ich geriet neulich in eine Gesellschaft, worin man, des allgemeinen, geschäftigen Ausplauderns ungeachtet, noch nicht weis, daß ich der Zuschauer sey. Man las eben ein Stück meiner Monatschrift, und fand dann auch einen Aufsatz über die Erziehung darin.

Schau, schau! sagte einer, jetzt kömmt der Zuschauer gar über die Erziehung. Was nicht noch alles? Nein! lass man uns da gehen wie wir’s verstehen. Mein Vater und meine Mutter haben’s auch verstanden, bin jetzt ein braver Bürger, und so mach‘ ich’s mit meinen Kindern auch. Schurken sollen sie mir nicht werden, und das Übrige vergeht mit den Jahren. „Gar weislich, mein lieber Mann, Herr, und Freund; will’s gerne glauben, daß ihr brave Männer, Bürger seid, aber wenn ihr mir auch immer sagt, ihr machets wies eure Väter machten, so weicht ihr doch in tausend Stücken z.B. nur die Kleidung allein hergenommen, davon ab. Bald unternehmt ihr eine Änderung von der Väter Sitten aus Bequemlichkeit, bald weil ihr das andere zu plump, zu wenig Mode fandet. In manchen Stücken würde es sehr gut lassen, wenn wir noch bey dem Zuschnitte unsrer Väter blieben, allein da auch der blödeste Verstand leicht einsehen kann wie wenig das allgemein tunlich wäre, warum wollten wir nicht in einem Stücke von unsern Eltern und Ahnen abweichen, das für unsere Nachkommenschaft so zuträglich sein kann, falls wir davon abweichen. Und im Grunde betrachtet, ändert ihr gewiss immer selbst an der Erziehung eurer Kinder zuerst ab. Eure Wanderschaften, Reisen, Umgang mit vernünftigen Leuten im Auslande belehren euch, wie ihr euer Gewerbe oder Künste verbessern könnt, und so wie ihr manchmal darin gute Grundsätze nach Haus bringt, so fandet ihr oft euern moralischen Charakter, oder eure Sitten verbessert. Ihr seid dann geheiratet, findet, daß ihr hie oder da in eurer Erziehung vernachlässigt worden seid, und das verbessert ihr wirklich an euren Kindern.

Gott bewahre, daß ich da von so liederlichen Eltern spreche, die ihre Familien mit Spielen, Saufen und Nichtstun zu Grund richten, obwohl auch diese noch ihre Lektion bekommen werden. Ich sehe wirklich vor meinem Fenster den Sohn des rechtschaffnen Malers N** wie er mit den verächtlichsten Gassenbuben Maitre im Schleifen ist, wie er hinter der Haustüre mit Schneeballen versteckt auf alte Leute lauert, denen er einen anbringen kann. Der Vater ist allgemein in der Stadt als ein guter Christ, und ehrlicher Mann beliebt. Der Sohn selbst hat keine ungeschickte Art einst ein geschickter Künstler zu werden. Er malt kleine Landschaften, zeichnet nicht übel, und man sieht beim bloßen Anblicke ein gutes Talent an ihm. Der Vater bei seiner Staffelei, die Mutter bei dem Nähekissen sehen den halb erfrornen Jungen am Werktage, wie am Feiertage dann zu Hause kommen, wenn es beinahe schon finster ist, und sagen – nichts. Indes gewöhnt der Bub mit ungezognen Kindern Bekanntschaft zu machen, alle ihre Unarten und Fehler zu lernen; denn mit Pech wird besudelt; und der Keim zum Laster oder Faulheit wird bestärket. Freilich behauptet dieser und manche derlei Väter, daß so was die Kinder nicht vererbt mache; allein teils fehlen die Beweise, teils wissen wir die meisten male das Gegentheil. Welch guten Fortgang kann man wohl beiy solchen Umständen für die Erziehung für das künftige Bravsein des jungen Menschen hoffen? Müßiggang und Nichtstun ist gewiss das erste, was der junge Mensch am ersten lernet. Im Winter geht er gerne auf die Schleifen, fährt Schlitten, besucht das Eis, im Frühlings spielt er mit so genanten Schussern, und Eierspacken (man erlaube mir mich der Spiele meines Vaterlandes, so wie der Worte zu bedienen, den ich schriebe für Baiern) im Sommer spielt er Soldaten, badet sich, so wie auch im Anfang des Herbstes, und so wird das Spiel das ganze Jahr fortgesetzt, folglich hat der Müßiggang immer Nahrung. Freilich schickt ihr lieben Bürger eure Kinder in die Schule, freilich sagt ihr, ihr lasst sie nur deswegen auf die Gasse, daß sie ein bisschen ausgampern (auch ein Lieblingsausdruck mancher unserer Mütter) und euch vom Halse kommen, und sie euch eine Ruhe lassen. Allein wie wenig Liebe für eure Kinder blick aus diesem Betragen, und Reden! Ist damit schon die ganze Sorge für die Erziehung geendet, wenn ihr ein Kind zur Schule schickt? Wem gehört es wieder nach der Schule? Soll nicht der Vater den Unarten des Kindes Schranken setzen? Und ist dies wirklich Beschäftigung genug, wenn das Kind bloß und einzig zur Schule geht? ist dies das einzige Mittel dem Müßiggange vorzubeugen? Gibt es außer der Schule in eurem Gewerbe gar nichts zu tun, wobei sie euch an die Hand gehen können? Freilich bei vielen gibt es nichts, wenn es manche Eltern genau nehmen, aber die meisten könnten ihre Kinder sehr gut beschäftigen, wenn sie dieselben z. B. zur künftigen Hantierung oder Kunst vorbereiteten, ihnen Kleinigkeiten von Arbeit vorlegten, und so dem schädlichen Lausen Einhalt täten. Die Gewohnheit, sagt man bei uns, ist ein eisernes Hemd, und nichts läßt sich eher gewöhnen als der Müßiggang bey einem Kinde. – Ich kann mir auf der Welt nichts abscheulicheres vorstellen, als einen Menschen, der nichts tut. Die ganze Natur scheint sich zu entsetzen wenn man so einen Menschen ansieht. Geboren zu sein mit dem Triebe zur Arbeit, und zu sehen wie viel tausend Hände damit beschäftigt sind einem Menschen nur einen Bissen Brot ins Maul oder einen Fetzen Kleidung auf den Leib zu bringen, und dennoch hinsetzen, und weil man nichts tun will, Luft schnappen, und Mücken haschen, das nenne ich in der Tat das bitterste Los eines Sterblichen. Und was wird aus dem Kinde werden, das jetzt die schönen goldenen Tage der Arbeit so verschleudert, und sich einer Beschäftigung überlässt, die eben dazu gemacht zu sein scheint, dein Kinde die Mittel an die Hand zu geben, ein ewiger Taugenichts zu bleiben.

Von verschiedenen Klassen solcher Lauser wär es sehr leicht auch Beyspiele niederzuschreiben, was ist 16 oder 17 Jahre oder auch später aus ihnen geworden. Bey derley Winterergötzungen gewöhnt sich dann ein Kind gar leicht ans Spielen, sieht dem Eisschießen zu, hat eine Freude daran, und sobald es nur einen Eisstock heben kann, spielt es selbst mit den schon lang gewählten Kameraden. Ins Geld freylich noch nicht, aber es geschieht vielleicht schon den nächsten Sommer in andern Spielen, deren es in unserm Vaterlande für Kinder genug giebt. Welche Quellen dann vom zukünftigen Verderben sich da schon öfnen, darf ich eben nicht sagen. Geldmangel zieht Schleichwege, Betrüge, Lügen, Diebstähle nach sich, Kameraden reden immer zu, locken und so wachsen Spieler für den Winter, manchmal fürs ganze Leben.

Sie verspielen mir doch mein Haus nicht, und ob sie in Steinen oder Pfennigen spielen, was macht das? Unvergleichlich! Seht einmal solche Spieler bei Kindern und dann seht ihr schon größre bei Jünglingen noch größere bey Erwachsenen. Ich habe mir schon gar so viele Geschichten von Spielern erzählen lassen, einige haben sie mir selbst erzählt. Und allemal fand ich den Grund schon in der Jugend dazu gelegt, da oder der Vater selbst ein Spieler war, und das Kind gleichsam dazu anreizte, oder demselben doch frei erlaubte, hie und da auf der Gasse oder bei spielenden Personen herumzuschwärmen. Haltet meine Eltern derlei Spiele und Herumlaufen immer für unschuldig; aber die Zukunft wird euch lehren, daß es euch dann ungemeine Mühe kostet eure Kinder zum Fleiß zu gewöhnen. Ich bin kein strenger Moralist, der ein Büßer der Freude ist, ich bin auch kein Todsündenmacher, daß ich alle Handlungen eurer Kinder in meinen Katalog bringe, allein die Erfahrung lehrt mich, daß Todsünden auf Dinge folgten, über die ihr jetzt lacht. Meines Erachtens sehe ich gar nicht, warum man dann Kinder nicht eben so beschäftigen und zur Arbeit, freilich zu solcher, die deren Kräften angemessen ist, anhalten soll, wie Erwachsne, besonders wenn sie schon einen ziemlich starken und gesunden Körper haben. Sie gehören ja auch zu denen, die im Schweiß des Angesichts ihr Brot essen müssen. Unsre Nachbarn die Protestanten fangen an ihre Kinder zu beschäftigen, sobald sich ein bisschen Anlage zeigt, da können Kinder mit 7 oder 8 Jahren nicht allein lesen und schreiben, die biblische Geschichte, und Vaterlandsgeschichte, sondern sie verstehen größtenteils schon vieles von ihrer Väter Hantierung oder Kunst. Ich will von denen nichts sagen, die wir in der Gelehrsamkeit bewundern. Abt schrieb in seiner Jugend die trefflichsten philosophischen Werke. Er starb in einem Alter von 28 Jahren, da bei uns manche nicht einmal wissen, was Leben heißt. Herr Pfarrer Müller zu Jungingen bei Ulm, die beiden Herrn Grafen von Stollberg, Maler Müllerin Mannheim, Reichard zu Gotha, und noch hundert andere berühmte Gelehrte und Künstler des Auslandes sind sehr jung, kaum übers dreißigste Jahr hinüber, und wir bewundern sie als große Männer, und sagen wohl hie und da: Die müssen früh dazu getan haben, sonst kommt’s ihnen nicht so frühe. Bein uns kommt’s aber erst mir vierzig. Und da meine lieben Freunde kommt’s nicht, wenn ihr nicht in der Jugend dazu getan habt, daß eure Kinder von Faullenzen und Lausen abgehalten werden.

Hätte mit dem Müßiggange, den sich Kinder durch das Herumstürzen auf der Gasse Winter und Sommer angewöhnen, schon alles andere Übel ein Ende; dann würde zwar freilich schon Unheil genug in der Welt sein; aber soviel dennoch nicht, als noch aus andern Unarten dieser bei uns so schändlichen Gewohnheit entsteht. Ich zittere allemal, wenn ich durch eine Stadt oder einen Markt, oder Dorf reise, wenn ich so viele Kinder sehe die sich mit verschiedenen Spielen beschäftigen an einem Tage, der zur Arbeit bestimmt ist. Ich denke dann oder an die schlechte Polizei, oder auch daran, daß dieser Ort einst viele Bettler und Taugenichtse zählen werde. Ich wünschte, daß diesen meinen Satz, den ich von der Erfahrung herhabe, auch die Erfahrung widerlegte. Und so viel ich weis, ist dies auch die Hauptsächliche Klage per Herrn Ökonomisten.

  1. Der Zuschauer in Baiern, beachtenswerte Kulturzeitschrift, Monatsschrift, 4 Jahrgänge, München 1779 – 1782
  2. Josef Milbiller, geb. 15.10.1753 in München, gest. 28.05.1816 in Landshut, deutsch-christlicher Gelehrter, Autor, Professor