1876 Zeitläufe

Zeitläufe

Das in Oberösterreich so beliebte Eisschießen ist eine Art Billardspiel auf dem Eise, und besteht darin, daß die siegen wollende Partei entweder die Stöcke der Gegenpartei, welche am nächsten beim Ziele, bei der Taube sind, wegschießt, damit ihre Stöcke den Platz einnehmen, oder daß sie das Täuberl selbst anschießt, um es in die größere Nähe der eigenen zu bringen.

Das ist ein wahrhaftiges Conterfei der orientalischen Frage! Die ganze Frage gleicht einer glatten Eisbahn, auf der man leicht ausrutschen kann; das „Täuberl“ ist die „hohe Pforte“ 1, die Schießer sind die Diplomaten, die einander aus der größeren Nähe wegbringen wollen und in Bahnen gerathen, die ihnen selbst unliebsam sind, doch sich der Hoffnung hingeben, Einer ihrer Partei werde wenn nothwendig das Täuberl durch einen eigenen Anschieß aus den Kreisen der nächsten Nachbarn in die größere Nähe der befreundeten Stöcke herauszuschmeissen wissen; mittlerweile aber verhärtet um die glatte Bahn ringsherum Schnee, ohne daß man seiner sonderlich achtet, während die Diplomaten mit ihren Gedanken – wenn sie solche haben – ausrechnen, wie sie den aufständigen Christen „definitiv“ helfen können, werden diese Christen vernichtet. – Wie das Eisschießen gleich aufhört, wenn es keinerlei Täuberl mehr gibt, aber es muß ein Täuberl geben, weil sonst die Hetze des Eisschießens aufhören würde: ebenso muß die Türkei aufrecht erhalten bleiben, denn sonst gäb es ja keine „orientalische Frage“, an deren Lösung die Diplomaten ihren Scharfsinn üben und eifersüchtige, wechselseitige Klage und Geschicklichkeit messen könnten.

Die Note des Grafen Andrassy, also die Einladung zu dem betreffenden Eisschießen wird schon jetzt von den Zeitungen mit „Wenn“ und „Aber“ beurtheilt, obgleich Niemand ihren Inhalt kennt, es ist gerade so, als wenn Einer „eisschießen“ wollte, ohne einen Stock zu haben.

Die orientalische Frage

Die „Orientalische Frage“ ist ein Begriff der europäischen Diplomatiegeschichte, der die aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstandenen Problemstellungen bezeichnete. Im 19. Jahrhundert wurde das vormals mächtige Osmanische Reich, das von den Medien der Zeit als kranker Mann am Bosporus persifliert wurde, durch Aufstände innerhalb seiner europäischen Territorien (Rumelien) geschwächt und immer mehr zum Spielball der europäischen Mächte.

  1. Hohe Pforte war ursprünglich im arabischen Sprachraum die allgemeine Bezeichnung der Eingangspforte zu Städten und königlichen Palästen. Später wurde sie insbesondere auf den Sultanspalast in Istanbul bezogen und zum Metonym für den Sitz der osmanischen Regierung.